Leseprobe 3
Die folgenden Auszüge finden sich im siebten Kapitel des Buches auf den Seiten 99-101
(die Fußnoten wurden hier gelöscht)

Der Blick des Gekreuzigten

Wenn in unserem Leben Tage oder Stunden kommen - und für wen kommen diese nicht? -, in denen nicht nur Wolken am Horizont den Blick auf die lichte Sonne verdecken, sondern uns eine fast völlige Nacht umgibt, deren Dichte uns zu ersticken droht, dann mögen wir uns an die Liebe erinnern, die uns in unserem Leben gewährt wurde, und daran, daß keine Macht der Welt uns zwingen kann, diesen Blick der Liebe zu verraten und zu sagen, daß es hier und heute einen Sinn nicht geben kann.

Jede echte Erfahrung des Liebenkönnens und des Geliebtwerdens verbürgt, daß es Sinn geben muß, und der Gekreuzigte und Auferstandene verbürgt, daß die Liebe tatsächlich stärker ist als alle Verzweiflung, aller Tod, daß es unbedingten Sinn in unserer Lebensgeschichte gibt, den keine noch so dunkle Erfahrung zu töten vermag. Auf jeden von uns sieht in jeder, auch gerade in den schwersten Stunden unseres Lebens, irgend jemand mit forderndem Blick herab, ein Freund, eine Freundin, eine Frau oder ein Mann, ein Kind oder sonst ein authentischer Mensch, ein Lebender oder ein Toter, immer aber und vor allem und durch sie Jesus, der Gekreuzigte, der als der Liebende der Auferstandene ist. Und dieser Freund, diese Freundin, diese Frau oder dieser Mann, dieses Kind oder dieser authentische Mensch da, dieser Lebende oder dieser Tote, immer aber und vor allem der Gekreuzigte wartet auf uns und erwartet von uns, daß wir ihn nicht enttäuschen und daß wir nicht armselig die Liebe und Treue (im Alltag, in guten und bösen Tagen) verraten und uns an die Mächte ausliefern, die wahrlich nichts bringen.

Begegnung mit dem Auferstandenen

»Wenn einem nichts mehr bleibt«, - so lautet, wie gesagt, das Zeugnis Viktor E. Frankls - vermag trotz allem der Blick des lieben(den) Menschen zu leuchten. Vermutlich war eben genau dies auch die Erfahrung der Jünger Jesu zwischen Karfreitag und Ostern. Alles war kaputt, sie waren entblößt bis auf die nackte Existenz, und um sie legte sich die Nacht, die sich anschickte, ihren Glauben und ihre Hoffnung zu ersticken. Es war zum Davonlaufen und der Verrat war das Nächstliegendste. Und in dieser Situation des hoffnungslos Ausgeliefertseins an die Kräfte der Verzweiflung, wurde es ihnen geschenkt, den Blick des liebenden Menschen zu vergegenwärtigen; und der Blick begann von sich aus zu leuchten, zu erleuchten, mehr als die Sonne, und es brannte ihr Herz: der ursprüngliche Glaube kehrte zurück, die Einsicht, daß Jesus lebt und er sich selbst kundgetan hat als der, der ihnen ihren Verrat vergeben hat, brach durch, die Angst wich hinweg, das Leben war neu geschaffen und die Zukunft ihnen sicher. Man mag es Bekehrung, Begegnung, Erfahrung, Erlebnis, Ostergnade, Pfingsterfahrung oder sonstwie nennen, die Jünger haben jedenfalls erfahren: alles, was wir sind, sind wir im Glauben an die Auferstehung, sind wir im Glauben an Jesus, der lebendig ist und für uns da ist; der Blick des liebenden Menschen, der uns im »Schauen einer unendlichen Herrlichkeit« neu geschenkt wurde, hat uns die Augen geöffnet und neu geschaffen zu einem Leben, dem die Zukunft nicht mehr geraubt werden kann. Von nun an beginnen sie, den Blick des liebenden Menschen im Herzen bewahrend, von ihrer umwerfenden Erfahrung mit dem, der das Leben und die Zukunft ist, zu erzählen, davon, »daß Liebe ... das Letzte und das Höchste ist«, das, was in alle Ewigkeit bleibt und Zukunft hat.

Auf eben diesem neu entfachten Glauben der Apostel gründet die Kirche, deren letzte und tiefste Aufgabe, deren Sendung darin besteht, den Blick des liebenden Menschen, der sich für uns kreuzigen ließ - sein Geheimnis - gegenwärtig und gleichsam wirksam zu halten. [...]

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